Abendröte

Das neuste Projekt: Ich werde zusammen mit Sarah (sarah-kreative-feder.jimdo.com) eine Geschichte schreiben. Wir sprechen uns vorher nicht ab und schreiben einfach immer weiter. Deswegen wird es umso spannender, was letztendlich aus der Geschichte wird. :D Viel Spaß beim Lesen!

 

Sarah, 03.11.2013

„Ja oder nein?“ Ich schaute zu Boden, fuhr mit der Fußspitze langsam über einen Stein. Bloß nicht hochgucken. Er kam einen Schritt näher, drückte mit seinen Fingern mein Kinn hoch. „Ja oder nein?“, fragte er noch einmal, diesmal gereizter und wütender. Ich antwortete nicht, wich seinen Blick selbstsicher aus. „Schau mir in die Augen, verdammt!“ Ich konnte es nicht. Ich wollte seinen Zorn, seine Enttäuschung- wollte einfach nicht seine Reaktion sehen. Ich atmete ein und aus. Meine Haare wehten im Wind. Man hörte das Rauschen des Meeres. Natürlich und unberührt. Ich drehte mich von ihm weg, beobachtete das Wellenspiel. Doch er umklammerte meinen Hals, würgte mich, zwang mich in sein Gesicht zu schauen. Und ich schaute hin. Ich sah seine funkelnden blauen Augen. Seine aufgeblähte Nase. Sein zusammengekniffener Mund. Seine Stirn lag in Falten. Wut. Er war mehr als wütend. Zu Recht. „Gib es zu, du hast es getan oder? Du hast…“ Ich schluckte meine Tränen hinunter. Bloß keine Schwäche zeigen. Er irrte sich. Ich hätte ihn nie verletzen wollen. Niemals. Aber ich konnte ihn nicht davon erzählen. Nicht erzählen, dass ich…dass er… „Mia, antworte!“ Er wurde immer ungeduldiger. Er hielt meinen Hals immer noch fest umklammert. Ich keuchte, rang nach Luft. „Antworte!“ Sein Gesicht war nur noch ein Zentimeter von meinem entfernt. Er roch nach Meeressalz. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Ich hustete. Langsam bekam ich keine Luft mehr. Doch das schien ihn nicht zu interessieren. „Ich drücke noch fester, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst!“ Es war hoffnungslos. Ich werde sterben- sterben, weil ich ihn beschützen wollte, mich, uns beschützen wollte. Mein Puls sank. Ich spürte meine Beine nicht mehr. Wie lange würgte er mich schon, fünf, zehn Minuten? „Du hast es nicht anders gewollt…“ Blanke Wut. Nichts als Hass und Abschaum. Ich konnte ihn verstehen. Aber er verstand mich nicht. 

 

Lini, 03.11.2013

Verzweifelt starrte ich ihn an. Sollte das hier so enden?

Meine Entscheidung war gewiss nicht einfach gewesen, aber ich hatte es für uns getan. Es hätte ein Neuanfang sein können. „Rede mit mir!“, brüllte er nun. Langsam wurden die Hände, die meinen Hals so verkrampft umklammerten, immer unbedeutender. Spätestens in ein paar Minuten war das alles eh vorüber, war ich vermutlich sowieso tot. Wie durch Nebel sah ich in seine Augen. Ein Aquamarinblau. Früher hatten diese Augen so oft, so schön gefunkelt. Damals hatte ich mir geschworen, alles zu tun, damit dieses Leuchten nie draus verschwand. Und nun?

Mit tränenverschleiertem Blick sah ich ihn an. Jetzt war alles, was sich in diesen Augen finden ließ Hass. Ich hatte mit so einer Reaktion doch nicht rechnen können! Sicher, dass er nicht erfreut wäre, hatte ich mir schon denken können. Aber er war in Gefahr gewesen und deshalb hatte ich handeln müssen. Ich würde meine Seele an den Teufel verkaufen für ihn. Vielleicht hatte ich das indirekt sogar schon getan. Trotzig musste ich mir eingestehen, dass ich meine Entscheidung noch nicht bereute.

Voller Hass schrie er: „Du hast das immer geplant, oder? Du wolltest mich vernichten - von dem Moment an, in dem du mich gesehen hast!“ Ich zuckte zusammen. „Nein.“, sagte ich. Alles konnte er mir erzählen, doch das nicht. Kurzzeitig lockerte er seinen Griff unwillkürlich. Offenbar war er doch ein wenig erstaunt, mir einen Ton entlockt zu haben. In dieser kurzen Sekunde schnappte ich kurz Luft. Sofort konnte ich wieder ein wenig klarer sehen. Schaute ihn einfach nur an. Ganz vorsichtig berührte ich mit meiner zitternden Hand sein Gesicht. So wunderschön…

Er schien zu Eis erstarrt. Bewegte sich nicht einen Zentimeter. Sagte nichts. Noch nicht einmal ein Wimpernschlag. Der Hass war noch da, der Ekel auch. Aber da war noch etwas, was ich im ersten Moment nicht zuordnen konnte…

 

Sarah, 08.11.2013

„Mia!“ Warum sieht uns denn keiner, verdammt? Der Kerzenschein leuchtete in der Abendröte. Ich spürte die Decke unter meinen nackten Füßen. Aus einem romantischen Abend am Meer wurde ein Albtraum, mein Albtraum. Er wird mich weiterwürgen, das wusste ich ganz genau. „Ich hätte es mir denken können. Aber ich werde nun einen Schlussstrich ziehen.“ Er umschloss nun vollkommen meinen Hals. Plötzlich drückte er seine Lippen auf meine. Er schmeckte nach Rotwein. Den Rotwein, den wir getrunken haben, als die Welt noch in Ordnung war. Ich zucke zusammen. Er schnellte zurück. „Du widerst mich an, Mia Antonia.“ Er sagte es ernst. Mit Stolz. Stolz- war er etwa stolz mich hier am Strand von Barcelona umzubringen? Ich dachte es wäre ein Liebesurlaub. Doch nun wird es mein letzter Atemzug sein. Bilder, Erinnerungen an unsere schöne Zeit zogen vor meinem inneren Auge vorbei. Bilder von unserem ersten Treffen im Park, als mir mein Hund ausgebüchst ist und er mir Suchen geholfen hat. Wie ich über eine Wurzel gestolpert bin, er mich aufgefangen hat und es sofort zum ersten Kuss kam. Was für ein Gefühl! Liebe auf den ersten Blick. Eine neue Szene blitzte auf- mein Geburtstag, er mit einem roten Umschlag in der Hand und darin die Reise nach Spaniens Metropole. Wie hatte ich mich gefreut! Bin ihm um die Schulter gefallen, habe ihn leidenschaftlich geküsst! Ein Hoch unserer Liebe. Soll sie jetzt wirklich so enden? Ich versuchte meine Augen aufzuschlagen. Ganz langsam nahm ich seinen Körper vor mir wahr. Seine durchtrainierten Muskeln. Seinen markanten Hals. Ich gab mich geschlagen. Soll ich doch sterben. Ich durfte achtzehn Jahre das besondere Leben auf dieser Erde genießen. Langsam verlor ich jegliches Gefühl in mir. Mir wurde schwarz vor Augen. Er küsste mich erneut. Nochmal der Geschmack nach Rotwein, nochmal die Erinnerungen. Warum tat er mir das an? Warum genoss er mein Leiden? Ja- ich hatte einen Fehler gemacht, aber nur um unsere Beziehung zu retten. Es hatte leider nicht funktioniert. Wenn er doch nur die ganze Geschichte wüsste…

 

 

Lini, 29.12.2013

Ich dachte früher, ich würde ihn kennen. Meine große Liebe. Inzwischen weiß ich, dass ich das nicht wirklich tat. Jeder Mensch birgt Geheimnisse in sich, die einen sind nur einfach größer als die anderen. Ja, damals, als er mir mein Flugticket überreicht hatte, war die Welt noch in Ordnung. Schien eine halbe Ewigkeit her zu sein. Oder sagen wir eine dreiviertel Ewigkeit.

Ich glaube, er wollte mir nie schaden. Er hat mir deshalb nichts von seinem größten Geheimnis erzählt, weil er mich schützen wollte. Schützen vor der Welt, in der er lebt. Ich denke, er sieht die Welt anders. Und als er mich sah - da hat alles gestimmt. Er wollte mich nie da mit reinziehen. Das glaube ich zumindest. Erfahren werde ich es vermutlich nie mehr.

 

Im Flugzeug dann fing mein Unglück an. Er wollte nur kurz auf die Toilette, küsste mich vorher kurz und war dann für ungefähr fünf Minuten nicht da. Ich suchte eigentlich nur Kopfhörer, um über mein Smartphone Musik zu hören, wirklich. Unglaublich, wie solche kleinen Dinge das Leben verändern können. Also suchte ich in seiner Tasche danach. Ich runzelte die Stirn, als ich sie nicht auf Anhieb fand und wühlte tiefer. Schließlich staß ich auf eine kleine Tasche, fast wie ein Etui. In der Hoffnung, meine Kopfhörer zu finden, öffnete ich es. Zunächst konnte ich den Inhalt nicht genau identifizieren. Wenn ich nicht so neugierig gewesen wäre und das Etui einfach wieder zu gemacht hätte, säße ich hier nun vermutlich auch, aber nicht in der Aussicht auf den baldigen Tod. Aber ich betrachtete es näher. Da war eine fest verschlossene Plastiktüte und darin war etwas, das auf den ersten Blick wie Mehl oder eine merkwürdige Gewürzmischung aussah. Auf den zweiten Blick dachte ich daran, wie merkwürdig es ist, dass mein Freund Mehl mit sich herum trägt. Beim dritten Blick erinnerte ich mich an diese Filme, in denen Drogendealer sich gegenseitig abschlachten, wenn sich einer nicht an den Deal gehalten hat. Und da zweifelte ich zum ersten Mal daran, ob ich meinen Freund wirklich kannte. Und ob er wirklich so ein ehrenhafter, normaler Bürger war…
Als er wieder zurück kam und sich auf den Sitz neben mir fallen ließ, verhielt ich mich ganz normal. Nur keine Unruhe erzeugen, wo ich mir doch überhaupt nicht sicher war. Auch der restliche Flug verlief ohne weitere Vorkommnisse.
Doch dann, zurück auf der Erde, angekommen in Barcelona, wurde mir mulmig. Wie könnte er mit Kokain oder einer anderen Droge überhaupt durch die Kontrolle kommen? Das wurde doch alles strengstens kontrolliert. Erst vor kurzem hatte ich eine Reportage im Fernsehen geschaut, wie sorgfältig Hunde darauf ausgebildet werden, Drogen zu erkennen und dann Alarm zu schlagen. Es konnten gar keine Drogen sein. Ich wurde einfach paranoid. Ich hatte in den letzten Wochen einfach zu viel Stress mit Schule gehabt. Die letzten Abi-Prüfungen hatten mich voll eingenommen. Zum Glück konnte ich jetzt erst mal entspannen. Ich versuchte, meine Gedanken ganz auf den bevorstehenden Urlaub zu konzentrieren, aber irgendwie wollte es mir nicht so ganz gelingen. Mir fiel auf, dass auch er in den letzten Wochen sehr gestresst aussah. Oder bildete ich mir das nur ein? Schon als Kind hatte ich eine sehr reghafte Fantasie gehabt. Bestimmt machte ich mir nur unnötige Sorgen. Also schüttelte ich die finsteren Vorahnungen ab.

Dabei hatte ich nicht daran gedacht, dass nicht nur meine Fantasie sein jeher sehr ausgeprägt war, sondern auch meine Intuition…

 

 

Sarah, 31.12.2013

Simon ist kein Drogendealer. Niemals. Immer und immer wieder redete ich mir ein, dass ich einfach nur voreilige Schlüsse gezogen habe. Oft suchte ich mit den Augen die seinen und starrte. Sekundenlang. Ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. Ich stand im gegenüber, unsere Nasenspitzen berührten sich bereits und ehe ich mich versah, küsste er mich. Als ob er meine Gedanken, meine Vorahnung einfach mit Küssen überdecken wollte; mit seiner, von mir geglaubten, innigen Liebe überdeckten wollte. Doch der Schein trug. Ich fühlte es. In meinem Herzen und in meinen Handflächen. Sonst war sein Puls immer ruhig und gleichmäßig, doch immer wenn ich meine Hand in seine legte, dachte ich das starke Pochen elektrisiert mich. Es war nicht nur zu spüren. Es schien, als ob sich mein Herzschlag dem seinen anpasste. Wie auch immer es möglich war.

 

Simon wurde von Tag für Tag launischer. Mal bestand er darauf, dass ich lieber die ganze Wasserflasche austrinken solle. Mal behandelte er mich wie eine Dose, die er beliebig in den Müll wirft. Entweder verschwand er einfach oder ignorierte mich augenblicklich. Keine Blicke. Keine Worte. Nur eiserne Kälte.

Ich begann schon vor ein paar Tagen ihn nicht mehr einschätzen zu können. Simon wurde immer unberechenbarer. Ich wusste nicht, ob er seine gesprochenen Worte ernst meinte. Ob er >Ich liebe dich< ernst meinte. Ich kam mir komisch vor. Nicht traurig, nicht wütend. Einfach nur verwirrt. War ich schuld? War er schuld? Oder ist das alles nur ein großes Missverständnis?

 

Vor zwei Tagen konnte ich nicht mehr meine Gedanken für mich behalten. Ich wollte Klarheit. Ich hatte mir festvorgenommen ihm nach dem Frühstück auf unserem Zimmer mit Fragen zu bohren, ihm zu einer ehrlichen Antwort zu zwingen. Ich wollte einfach wieder normal leben, den Urlaub genießen können. In der Nacht davor wälzte ich mich oft von einer Seite zur anderen, strich mit meinem Zeh über seine straffen Waden. Ich beobachtete ihn beim Schlafen. Simon ist kein Drogendealer. Niemals. Die Worte hallten wie Echos in meinen Ohren. Prompt begann mein Herz an zu rasen. Ich wusste die Antwort bereits, doch ich wollte es in jener Nacht nicht wahrhaben. Die Minuten vergingen nur langsam. Ich schwitzte am ganzen Körper, atmete schwer. Ich konnte einfach nicht schlafen. Vor meinen Augen tauchten Bilder auf, wie er auf meinen Verdacht reagieren würde. Immer nur Bilder, wie er ausrasten und mich zusammenschlagen würden, keine, wo er das Drogengeschäft abstreitet. Schweißperlen liefen entlang meiner Wangen. Ich schälte mich leise aus dem Bett, warf mir meinen Bademantel über und drehte mich um. Simon lag da. Schlief unschuldig wie ein Baby. Ich wandte mich ab. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich ging zur Balkontür. Sie quietschte, als ich sie öffnete. Doch Simon regte sich nicht. Er schlief weiter. Frische Meeresluft kam mir entgegen. Der Himmel war von Schwärze bedeckt, einzig die Laternen warfen helle Strahlen an den Horizont. Von unten war lautes Lachen zu hören. Aufgeregte Stimmen. Ich wollte schon immer Spanisch lernen. Doch ich fand nie Zeit dazu. Meine Gedanken fuhren Karussell. Ich dachte über Simon nach. Über mich nach. Über unsere Beziehung nach. Simon ist der Dominantere von uns beiden. Er bestimmt, welches Programm wir abends im Fernsehen schauen. Er bestimmt, ob wir ausgehen oder nicht. Oft entscheidet er sich dagegen. Immer ohne Begründung. Nie mit der Aussage >Aber ein andermal< Ich binde mir meine langen Haare zu einem Zopf. Streiche meine Ansätze glatt. Ich soll für ihn immer schön aussehen. Repräsentativ. Erst jetzt merkte ich, wie er mich bevormundete. Doch wann fing er damit an? Warum habe ich es zu gelassen? Nun kullerten die Tränen nach und nach an meinen Wangen hinab, verschmolzen  mit den Schweißtropfen. Ich fühlte mich mies. So mies, wie schon lange nicht mehr. Ich musste etwas ändern. Ich musste mich ändern. Und das tat ich dann auch…

 

 

 

Lini, 11.01.2014

 

Ganz leise schlich ich zurück in unser Zimmer. Die Stille war jetzt irgendwie bedrohlicher, angespannter. Wie ein Tier auf der Lauer, das jeden Moment aufspringen kann, um die Beute zu reißen. Was, wenn er nun aufwachte? Was sollte ich dann sagen? Ich suchte das Etui. Der Rucksack stand immer neben seinem Bett, jede Nacht. Hoffentlich lag das Etui noch darin. Nachdem ich mich hingehockt hatte, versuchte ich, so leise wie möglich den Reißverschluss zu öffnen. War mir jeder Bewegung bewusst. Schluckte. Noch ein kleines Stück. Offen! Eine leichte Erleichterungswelle durchflutete mich. Behutsam schaute ich hinein und sah den Behälter auf Anhieb. Augenblicklich schlug mein Herz wieder schneller. Es war da. Wäre es nicht da gewesen, hätte ich es mir vielleicht noch anders überlegt. Mit einem kurzen weiteren Blick auf Simon streckte ich die Hand aus und berührte das Etui. Es war recht kühl und ich erschauderte leicht. Vorsichtig holte ich es hervor und öffnete es. War meine Angst wirklich begründet? Ich hatte beschlossen, es herauszufinden. Aber ich konnte einfach nicht mehr sicher sein, ob Simon mir die Wahrheit sagen würde. Zitternd stand ich wieder auf, schnappte mir ein paar Klamotten und huschte aus dem Zimmer. Rasch zog ich mich an. Der Stoff streifte über meine Haut. Meine Sinne waren aufs Äußerste angespannt.
Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, zuckte ich zusammen. Ich hatte meine Entscheidung getroffen, aber ganz wohl fühlte ich mich nicht. Ich hätte den einfachen Weg wählen können. Hätte meine Angst leugnen können und den Urlaub genießen können. Hätte unter der warmen, behütenden, flauschigen Decke bleiben können. Aber die Zweifel wären immer geblieben. Also stand ich da nun, in einem leichten Mantel und einem Etui in der Tasche, das mir noch gefährlich werden könnte. Ich nahm noch einen tiefen Atemzug und tauchte dann in das Nachtleben Barcelonas ein.

 

 

Sarah, 26.01.2014

 

Bunte Lichter fielen auf die Straße. Palmenblätter wedelten sanft in dem Rhythmus des Windes mit. Ich schloss die Augen. Mitten auf dem Bürgersteig. Vor einer spanischen Bar. Vor all den fremden Leuten, die angeregt miteinander reden und lachen. Hier und Jetzt. Plötzlich verstummten sie. Ich spürte ihre Blicke. Sie durchlöcherten mich wie zig  Messerstiche. Doch ich blendete alles um mich herum aus, konzentrierte lediglich mich auf das Klopfen meines Herzens. Ich sog die Meeresluft ein. Mein Blut pulsierte. Wärme durchfloss mich. Ich ließ meine Schultern langsam nach unten sinken. Haarsträhnen streiften mein Gesicht. Sollte ich es wirklich durchziehen? Nicht nur in meinen Gedanken, sondern auch in der Realität tun? Hier im  romantischen Barcelona, Spaniens Metropole, in der Stadt, wo man seine Liebe eher verstärken, als gefährden sollte? Mich überfielen schon immer Zweifel. Egal was ich machen wollte, immer schossen mir all die Konsequenzen, die Nachteile, unschlüssige Fragen durch den Kopf, bringen mich dazu mein Vorhaben abzublasen. Ich kann mich einfach nicht durchsetzen. „Ach, die Mia tut doch keiner Fliege was zu leide. Sie ist so brav und unscheinbar.“ Das habe ich nicht nur einmal in meinem Leben gehört. In meinem Kopf herrschte Chaos. Absolutes Chaos, wie schon lange nicht mehr. Mein Leben ähnelte einer Plastiktüte: Wem interessiert es was darin ist, sie kommt eh nach einiger Zeit in den Müll. Irgendwann ist sie zerrissen, unbrauchbar, für niemanden mehr interessant. Sie hatte gedient und fertig. Mein Kopf schmerzte. Ich weiß gar nicht, wie lang ich auf dem Bürgersteig stand. Sekunden, Minuten? Ich fühlte mich für frei. Frei von meinen Sorgen. Meinen Problemen. Meinem Leben. Ich genoss die temperamentvolle Musik im Hintergrund. Ich genoss die leichte Brise, das Kitzeln eines Palmenblattes an meiner Schulter. Ich genoss es einfach ich selbst zu sein.

"Hola señorita. ¿Estás bien?"  Eine tiefe raue Stimme holte mich aus meiner Traumwelt zurück. Ich schlug erschrocken meine Augen auf. Nun waren alle Sorgen und Probleme wieder da. Ich griff in die Tasche meines Mantels: das Etui auch. 

"¿Señorita?"

"¿Qué quieres?"

"¿Hablas espan͂ol?!"

"Sí, y que?" Er schaute beschämt zu Boden. Seine Wangen glühten. Er nestelte nervös an seinem Hosenbund. Obenrum trug er nichts. "Ehm..." Ich schwieg. Er schwieg. "Lo siento, no sabía que..." Wie in Trance lächelte ich ihn an, bereit mich von ihm abzuwenden. Schließlich war ich auf einer Mission. "Señorita..." Er griff nach meiner Hand, schaute mir tief in die Augen und flüsterte kaum hörbar: "Lo siento verdadero...Perdoname, por favor"

Ich kam mir vor wie in einem falschen Film gelandet zu sein. So eine Szene passiert doch nur in einem kitschigen Liebesfilm, und nicht in meinem Leben. "Pues..." Hätte ich doch nur einen Spanischkurs gemacht! Mehr als Ja, nein und die typischen Begrüßungsfloskeln beherrschte ich nicht.

"Me gustan tus ojos. Azul como el cielo." Ich hob verwirrt meine Augenbrauen.

"Qué?"

"Eres tan hermanosa." Was will er von mir? Ich nickte. Er lachte auf, zwinkerte mir zu. Seine Augen leuchteten. So ein dunkles Braun. Ein Blick, so undurchschaubar und elektrisierend. Sanft streichelte er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Nun glühten auch meine Wangen. Ich spürte Wärme. Doch dann wurde mir eiskalt. Ich schauderte für einen Bruchteil einer Sekunde. "No...", räusperte ich mich schüchtern.

"¿Tienes un novio?"

Novio...novio...verdammt was hieß es doch gleich...Freund, genau Freund. Ich nickte betrübt. Das Leuchten in seinen Augen verschwand augenblicklich. "Oh" Wieder schaute er zu Boden. Ich war total verwirrt. Was sollte diese Aktion? Ich fuhr mir nachdenklich durch die Haare, lächelte gestelzt. Lieber weg hier, bevor ich doch noch seinem Charme und seinem braungebrannten durchtrainierten Körper unterliege. Doch es fiel mir schwer. Ich verharrte einen Augenblick, meinen Blick intensiv auf seinen Körper gerichtet. "Mache keinen Fehler, Mia", schoss es mir durch den Kopf. Ja, ich hatte eine Beziehung, wenn auch eine sehr komplizierte. Ich drehte mich schnell weg, nahm noch ein letztes Mal die laute Musik in mir aus, das Gelächter der Menschen, die bunten umher tanzenden Lichter und rannte weg. Rannte so schnell ich konnte. Und wieder spürte ich einen Messerstich, direkt durch mein Herz. Ich spürte, dass mir der fremde Junge nachschaute.

 

 

Lini, 03.02.2014

 

Wir hatten eine Ferienwohnung, die war nicht weit weg vom Strand. Da rannte ich jetzt hin. Obwohl ich an nichts denken konnte, steuerte mich mein Unterbewusstsein automatisch dort hin. Zu einem Ort der Ruhe. Es war der Ort, an dem ich auch jetzt sterben sollte. Ich glaube, einige nennen das Ironie des Schicksals. Einige vielleicht Zufall.
Ich rannte einfach weiter, bis meine Füße den Sand berührten. Da blickte ich hoch. Sah das Meer, das ruhig hier lag, an der Küste von Barcelona. Hier bei Nacht. Es würde noch Jahrhunderte und Jahrtausende hier weilen, unsterblich. Ein Hauch von Melancholie ergriff mich. Wie lange würde ich noch auf dieser Erde weilen? Vielleicht wusste ich schon da, dass mein Leben nie mehr so sein würde, wie vorher. Vielleicht spürte ich, dass die Veränderung schon heran nahte, wie ein auf der Lauer liegender Tiger. Ja, wenn ich so darüber nachdenke, dann habe ich es bestimmt gespürt. Es war dieser Wind der Veränderung, wie man es so schön sagt. Aber in diesem Moment lag die Vorahnung wirklich in der Luft. Ich spürte sie in jedem Luftpartikel, auf jeder Woge des endlosen Meeres vor mir und in jedem Sandkorn des Strandes, der sich vor mir erstreckte.

Also setzte ich mich in den Sand und dachte nach. Gedankenverloren zeichnete ich verschlungene Muster in den Sand. So verschlungen war meine Beziehung zu Simon einmal. Doch jetzt… Die Linien entfernen sich voneinander. Fakt eins, sagte ich mir, ich trage ein Etui in meinem Mantel, das ich Simon gestohlen habe. Kurz stockte mein Atem. Aber doch, gestohlen war das richtige Wort. Ich glaube, ich brauchte diesen Moment da am Strand einfach, um überhaupt erst zu realisieren, was passierte. Kurz erwog ich, einfach wieder umzudrehen. Ich könnte lügen und hoffen, er glaubt mir. Aber ganz schnell wusste ich, dass ich das nie tun würde. Ich würde ihm nie mehr wirklich vertrauen können.
Mit den Fingerkuppen schlug die eine Linie eine neue Richtung ein. Weg von der anderen. Fakt zwei, ich habe die Vermutung, es handelt sich um… um… Selbst in Gedanken hatte ich Furcht, es auszusprechen. Ich habe Angst, es sind - Drogen. So. Wieder musste ich das erstmal verdauen. Drogen waren keine Kleinigkeit. Drogen… Menschen waren schon wegen geringeren Straftaten im Gefängnis gelandet. Meine Eltern hatten mich als Teenanger immer wieder davor gewarnt. Wenn du einmal in diesem Milieu landest, sagten sie, kommst du da nicht mehr raus. Sie hätten sich die Mühe sparen können. Drogen waren für mich nie eine Option. Ich behielt lieber die Kontrolle über meinen Körper und meine Gedanken. Von daher hatte ich mich noch nie groß mit diesem Thema auseinander setzen müssen. Aber mir war klar - sollte sich in diesem Etui wirklich Drogen befinden, wollte ich nichts damit zu tun haben.
Wenn Simon Drogen nahm… Nein, das hätte ich doch bemerken müssen! Ein wenig erleichtert über diese Erkenntnis nickte ich mit dem Kopf. Aber er könnte sie trotzdem verticken. Besorgt biss ich mir auf die Unterlippe und meine Fingerkuppen zeichneten Zacken in den Sand. Man geriet leicht in so etwas herein. Vielleicht bereute Simon ja auch seinen Fehler. Vielleicht hatte er nur Angst und war deshalb so launisch, seit wir hier angekommen waren…
Halt, Stopp, Mia! Es gab da etwas, das ich da immer wieder vergaß: Fakt drei, ich wusste gar nicht, ob es sich um Drogen handelt und ich wusste auch nicht, wie man welche erkennt. Die Finger im Sand stoppten unwillkürlich. Das war ein Problem. Schon seit ich das Haus verlassen hatte, wusste ich, dass ich dieses Problem lösen musste. Ich musste heraus finden, was das überhaupt war, was ich da mit mir herum trug. Auf was das hinaus lief, war mir im Grunde klar, aber ich wollte es noch nicht so ganz wahr haben. Mit der ganzen Hand umschloss ich nun den Sand und ließ ihn langsam durch meine Finger rieseln. Ging die Alternativen durch. Suchte nach einer anderen Lösung. Aber als das letzte Sandkorn wieder zu Boden fiel, musste ich mir schließlich eingestehen: Nur so würde ich wirklich Gewissheit haben.

 

Ich musste jemanden finden, der sich auf diesem Gebiet auskennt.

 

 

Sarah, 12.04.2014

 

Ich lief weiter am Strand entlang. Das Meer rauschte.  Wellenschaum umspülte meine nackten Füße. Schritt für Schritt spürte ich den wasserdurchtränkten Sand, wie er sich an meine Zehen heftete. In einer Partnerschaft heftet man sich auch aneinander. Man gehört zusammen, lässt sich einander nicht mehr los. Ich hockte mich nieder, wischte den Matsch ab. Doch nur das Wasser lässt die einzelnen Sandkörner miteinander verschmelzen. Wie ist es bei uns Menschen? Was ist bei uns ausschlaggebend für eine innige Beziehung? Ich wusste es mal. Jetzt nicht mehr. Jetzt spüre ich es nicht mehr. Zuerst ist es Sympathie, dann Verliebt sein und daraus entwickelt sich die große Liebe. Unbeschreibliche Gefühle, Sehnsucht, Zuneigung, Zärtlichkeit, Geborgenheit, Intimität, aber auch Eifersucht und die Angst, verletzt zu werden. Simon ist nicht mein erster Freund. Doch er wäre der erste, dem ich die drei magischen Worte sagen würde.

Ich fuhr wieder mit meiner Fingerkuppe im Sand umher, zog Schlenker, malte Herzen, schrieb in großen Druckbuchstaben: Ich liebe dich. Lange starrte ich diese drei Wörter an. Zu lange. Eine große Welle schwappte ans Ufer, verwischte die Buchstaben und überzog mich mit einem Schleier aus Wasser und Schaum. Ich schrie auf. Meine Gedankenblase platzte und ich schaute geschockt an mir herunter. Alles nass. Alles voll mit Sandkörnern. Ich sprang auf und klopfte mein Kleid ab- erfolglos. Ich schaute mich herzklopfend um. Von weitem brannten Lichter von Bars und Hotels. Ab und zu huschten  Menschengruppen in die dunklen Gassen. Ein Pärchen tauschte an einer Laterne leidenschaftlich Küsse miteinander aus. Sie waren zu beschäftigt, um mich zu sehen.  Ich atmete tief ein und aus, schlüpfte kurzerhand aus dem Kleid und rannte ins Meer. Die Strahlen des Mondes ließen die Wasseroberfläche silbern glänzen. Die Wellen schwappten an meine Brust. Das Wasser war nicht sehr tief, aber tief genug um mich zu umschließen, bis in jede Pore. Ich fühlte mich geborgen und sicher. Ich wollte hier nicht mehr weg. Ich wollte für immer im Meer bleiben.  Ich formte meine Hände zu einer Schüssel, sammelte Wasser darin und goss es über meine Haare. Ich spürte jeden einzelnen Tropfen, der an meinem Körper hinunter fuhr. Mir kam es vor als ob die Zeit stehen bleiben würde. Aus Sekunden wurden Minuten. Ich legte mich rücklings aufs Wasser und ließ mich treiben,immer der Strömung entlang, den Blick zum Himmel gerichtet. Ich wollte nicht zurück zum Strandufer schauen, nicht das Etui sehen und nicht an Simon erinnert werden. Ich beobachtete den Mond, die einzelnen Krater, versuchte all meine Gedanken auszublenden. Nur das Meer und ich.

„¿Qué cojones?“  Ein lauter Schrei ertönte. „¡Dios mío!“ Dann noch einer. “Drogas. Son drogas.” Ich blinzelte verschlafen, suchte mit den Füßen den Meeresgrund und drehte mich in Richtung Strand. Ich konnte lediglich zwei Silhouetten erkennen. „¡Llama a la policía! ¡Ahorita!“ Eine der beiden Gestalten rannte zurück zur Promenade, die andere blieb zurück und kniete im Sand. Ich fühlte mich noch immer seelenruhig, ausgeglichen, von allen Sorgen befreit. Nur das Meer und ich. Ich streckte mich. „¿Hay alguien?“ Ich riss erschrocken die Augen auf. Es war eine tiefe Stimme, fest und bedacht. Wie in Trance winkte ich dem Jungen zu. „¿Estás bien?“ Ich reagierte nicht. Stattdessen legte ich mich wieder aufs Wasser, schloss meine Augen und träumte.

„Senorita, ¿Estás bien?“ Zwei Hände umfassten meinen Oberkörper. „Was? Wie? Wer bist du?“ Ich öffnete benebelt meine Augen und starrte direkt in dunkle braune Augen. Warte, die kannte ich doch…Ich schrie auf. Schlug panisch um mich. Erst jetzt realisierte ich, dass ich nackt bin. Vollkommen nackt. Im Wasser. Neben einem Jungen. Allein. Mein Herz pulsierte. Ich versuchte mich aus seinen Armen zu befreien. „¡Tranquila! Todo está bien.“ Nichts ist gut. Gar nichts. Ich trat ihm gegen das Knie, wollte davon rennen und tauchte unter. Das Wasser tiefer als vorher und der Strand viel weiter entfernt. Der Junge verstärkte seinen Griff und zog mich hoch. Er lächelte. Er wusste, wer ich bin. und ich wusste, wer er ist.  Wir schauten uns lange an. Ich spürte ein Verlangen, den Drang zum Abenteuer, Leidenschaft. Ich presste ihn augenblicklich an mich. Er umschloss meine Taille. Mein Herz raste. Meine Brust schmiegte sich an seine. Und ehe ich mich versah verschmolzen unsere Lippen miteinander…

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Veri (Sonntag, 19 Januar 2014 10:41)

    So, jetzt muss ich endlich auch mal was zu eurer Geschichte sagen :) Wahrscheinlich hätte ich nach einiger Zeit nicht mehr gewusst, was ich schreiben soll, wenn ich ebenfalls eine Fortsetzungsgeschichte mit jemandem geschrieben hätte xD Sicher wären mir früher oder später die Ideen ausgegangen.
    Eure Story nimmt allerdings immer wieder überraschende Wendungen, was mir gut gefällt.
    Macht weiter so!